Ein bohrendes Buch, das der 57jährige Autor da schrieb, nachdem er sich
aus seiner Hamburger Kaffeehandelsfirma aufs - bayrische - Land
zurückgezogen hatte. Wie Nossacks frühere Romane ("Spätestens im November«
und »Spirale") begnügt sich »Der jüngere Bruder« nicht mit Idyllischem,
sondern behandelt das Nachkriegs-Europa, »in dem die Menschen sich geben,
als ob nichts gewesen wäre, und wo alles, vom Parteipolitiker jeder
Schattierung bis zur Industriellen-Gattin, christliches Abendland spielt«.
Nach zehnjährigem Südamerika-Aufenthalt kehrt ein Ingenieur 1949 in die
deutsche Heimat zurück, um den seltsamen Tod seiner Frau aufzuklären. Ihm
begegnet - indirekt - ein engelsgleicher junger Mann, der im verwüsteten
Europa jene »unsichtbare Vorhut des Menschen« symbolisiert, die unerkannt
und zukunftsgläubig »heute nur noch in den großen Städten« umgeht. Der
Verfasser kann weder die Geschäftswelt des Westens noch die des Ostens
empfehlen; ihm geht es um die »andere« Sprache, von der allein Hoffnung
kommt, daß der Mensch wieder wirklich zu leben beginne. Des Autors
Pessimismus, der schon kurz nach dem Kriege die Aufmerksamkeit des
Oberexistentialisten Jean-Paul Sartre erregt hat, ist nicht mehr ganz
trostlos, obschon auch in diesem neuen Roman Nossacks die dunklen Seiten
überwiegen.
Quelle: DER SPIEGEL 50/1958