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"Sie reden von Pflichten, weil sie das Glück nicht haben und verärgert sind; sie wollen, daß andere es auch nicht haben."

Hans Erich Nossack

Spätestens im November

TAZ-Rezension aus dem Jahre 2020 von Frauke Hamann

Marianne Helldegen, 28, aus Uelzen, ist mit Max, einem Nahrungsmittelfabrikanten, verheiratet. Ihr und dem kleinen Sohn fehlt es vermeintlich an nichts in der Villa am Stadtrand. Höchst erfolgreich führt Max die väterliche Firma, stiftet auch einen Literaturpreis, der Reputation wegen. Bei der Verleihung ist er selbst dann nicht zugegen, aber Marianne geht hin. Als sie dem einige Jahre älteren Preisträger begegnet, Berthold Möncken, wissen beide sofort, dass sie zusammengehören.
„Mit Ihnen lohnte es sich zu sterben“, sagt er zu ihr. Sie fahren zur Helldegen-Villa, Marianne packt ein paar Sachen zusammen: „Ich wollte ja auch nicht viel mitnehmen, wozu? Nur das Notwendigste.“ Sie spürt, dass es die einzige andere Möglichkeit zu leben ist, die zu versäumen sie sich ewig vorwerfen, ja woran sie zugrunde gehen würde. Als Max heimkehrt und die beiden aufbrechen sieht, fragt er kühl: „Und der Zweck des Unternehmens?“
Dass man mitmachen muss: Diese Haltung dementiert „Spätestens im November“. Nossack (1901–1977) wählt als Erzählhaltung Mariannes Bewusstseinsstrom: Im Rückblick tastet sie die entscheidenden acht Monate ihres Lebens ab nach Möglichkeiten autonomer Perspektivgebung. „Es war alles richtig, was wir taten“, denkt sie beim Verlassen der Villa.
Doch die Amour fou zum Schriftsteller Berthold gerät kaum drei Monate später an einen toten Punkt, auch das spürt sie. Die Empfindungen des Glücks verflüchtigen sich. „Er läßt sich nicht halten“, denkt Marianne, fühlt sich überflüssig an der Seite eines Mannes, der ganz auf sein Schreiben fokussiert ist.
Kurz entschlossen kehrt sie zu Ehemann und Sohn zurück, wird ohne ein Wort des Vorwurfs wieder aufgenommen. „Gefühle haben keine lange Lebensdauer“, ist Max überzeugt. Zäh und nüchtern müsse man sein, um Erfolg zu haben. Im November kommt Berthold Mönckens neues Stück am Stadttheater zur Uraufführung. Die Situation bei Helldegens ist angespannt, Marianne ist sich sicher, dass Möncken sie abholen wird. So geschieht es auch: Nach der Premiere klingelt es. Marianne trägt dasselbe Kleid wie im Frühjahr, packt den Koffer und verlässt Mann und Kind erneut – ein Déjà-vu. „DEATH IS SO PERMANENT“ steht auf dem Straßenschild an der unfallträchtigen Kurve, die Marianne und Berthold passieren. Und der Roman endet wie ein Film der Nouvelle Vague: Sie kommen zusammen ums Leben.
Nossack, 1919 Abiturient am traditionsreichen humanistischen Johanneum, brach das dann begonnene Studium nach Fach- und Hochschulwechsel 1922 wieder ab. Von 1924 bis Mitte der 1950er-Jahre führte er ein Doppelleben: Tagsüber arbeitete er in der väterlichen Kaffee-Import-Firma, die Abende gehörten dem Schreiben. So resultieren Nossacks erzählerische Präzision und sprachliche Klarheit aus einer Beobachterrolle, die er nicht nur dem eigenen Brotberuf und sich selbst gegenüber einnimmt, sondern gegenüber allen Menschen.
Mit klarem Blick legt er auch in „Spätestens im November“ die Erfolgsfixiertheit und Sprachlosigkeit während der westdeutschen „Wirtschaftswunderjahre“ bloß, erzählt vom wachsenden Wohlstand bei gleichzeitiger Leere zwischen den Menschen. „Wir dürfen keinen Fehler machen, wollte ich zu ihm sagen, doch als ich ihn ansah, ließ ich es“, heißt es am Anfang des Romans. Warum sind alle Protagonisten gefangen in Konventionen? Welche Entfaltungsmöglichkeiten hat Marianne in der Ehe mit dem Vorzeige-Unternehmer? Warum kann dieser die Familie nur als Hort des Konformismus begreifen? Und was kann ein Schriftsteller bewirken, der die eigenen Werke geringschätzt und die erhaltene Urkunde nach der Preisverleihung zerreißt?
Man muss sich Nossack als spröden Menschen vorstellen, unsentimental, lakonisch. Über seine „Mutterstadt“ Hamburg schrieb er 1964 in sein Tagebuch: „Es ist unmöglich, zugleich Hamburger und geistiger Mensch zu sein. Das sind unvereinbare Dinge.“ Über seine Wirkung als Schriftsteller hegte er keine Illusionen: „Man muß entweder ganz großen Erfolg haben oder gar nicht erst anfangen.“ Gut, dass Nossack schließlich ganz beim Schreiben blieb, gefördert übrigens von einem Unternehmer.
Er war überzeugt: Nichts für die eigenen Sachen zu tun, ist richtig, dann machen sie selbst ihren Weg, und sei es nach vielen Jahren. Das gilt gewiss für Nossacks Prosatext „Der Untergang“ (1948), im Nachkriegsdeutschland eine der ersten literarischen Befassungen mit den Schrecken des Bombenkriegs. Es gilt unbedingt aber auch für „Spätestens im November“, seinen bis heute erfolgreichsten Roman.

Quelle: taz.am Wochenende vom 14.11.2020



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